Werden Architekten oder Bauunternehmer nach den Entwicklungen der Baubranche gefragt, die die kommenden Jahre am stärksten prägen werden, dann ist das Thema Barrierefreiheit stets prominent platziert. Dieser Begriff steht für die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der gestalteten Lebensbereiche für mobil eingeschränkte Menschen. Öffentliche Bauten, Verkehrswege aber auch die Gestaltung der Wohnbereiche sollen auf diese Weise möglichst ohne Hürden und Schwellen zugänglich sein.
Sicher stehen bei diesem Baukonzept Menschen mit Gehbehinderungen, Lähmungen oder fehlenden Gliedmaßen im Fokus – doch nicht nur sie. Der in diesem Zusammenhang oft verwendete Betriff „behindertengerecht“ ist unzureichend und weit weg vom aktuellen Anspruch, allen Menschen umfassende Zugänglichkeit und Benutzbarkeit zu ermöglichen.
Der demografische Wandel in Deutschland führt mittelfristig zu einem höheren Anteil älterer Menschen mit altersbedingten Beeinträchtigungen, vor allem im sensorischen und motorischen Bereich. Bedenkt man, dass sich nach Prognosen des Statistischen Bundesamtes die Zahl der 80-Jährigen und noch älter bis 2050 nahezu verdreifacht – von heute vier Millionen auf zehn Millionen – dann wird schnell deutlich, dass barrierefreies Bauen längst kein Randphänomen mehr ist. Die Bemühungen der öffentlichen und privaten Bauherren sollten also über die Installation obligatorischer Rollstuhlrampe vor dem Hauseingang hinausgehen. Erschwerend kommt hinzu, dass hunderttausende Senioren sich aus eigener Kraft keine Altenpflege mehr leisten können und daher darauf angewiesen sind, so lange wie nur möglich in den eigenen vier Wänden bleiben zu können. Barrierefreiheit in der Wohnung ist dabei eine unabdingbare Voraussetzung, um eine lange Zeit unabhängig und selbstständig den Alltag meistern zu können. Globalisierung und sich verändernde Familienstrukturen führen dazu, dass die Kinder nicht mehr „um die Ecke“ wohnen, um eine Stütze bei vielen kleinen Dingen des Alltags sein zu können. Zunehmend sind Ältere auf sich allein gestellt und benötigen dafür ein altersgerechtes Umfeld.
Umso erstaunlicher, dass das Tempo der Entwicklung nach wie vor zu langsam ist, um der Brisanz des Themas gerecht zu werden. Nach einer aktuellen Berechnung der KfW-Bank werden in Deutschland heute 700.000 altersgerechte Wohneinheiten gezählt. Benötigt werden aber rund 2,5 Mio, wie der Deutsche Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung errechnet hat. Neubauten können diesen Mangel nicht beheben und im Bestandsbau schiebt man Investitionen, die sich erst in der Zukunft auszahlen, gerne auf die lange Bank. Reagiert wird erst, wenn die Lunte brennt und die Beseitigung der Barrieren unvermeidlich geworden ist. Die Bauherren scheinen im Wohnungsbau nicht langfristig genug zu denken. Dabei profitieren auch Familien mit Kindern von Barrierefreiheit: Gefährliche Stolperfallen und unüberwindbare Hindernisse verschwinden, der Wert der Immobilie steigt. Und man legt den Grundstein dafür, jahrelang in den eigenen vier Wänden bleiben zu können.
Autor: Paul Deder