Vier Monate ist es her, dass sich Covid-19 auf der Erde ausgebreitet hat. Seitdem sind Millionen Infizierte und Hunderttausende Tote zu beklagen. Nur eine Handvoll Länder, vor allem Kleinstaaten im Pazifik, hat die Pandemie bisher verschont. Der Schuldige für das hohe Tempo und die Wuchtigkeit der Infektionswelle ist schnell ausgemacht: Die Globalisierung sei schuld daran, dass das Virus von einem chinesischen Wildtiermarkt aus die Wohnzimmer der Welt erreichen und ganze Staaten für Monate wirtschaftlich außer Gefecht setzen konnte.
Sicherlich ist unsere extreme Vernetztheit einer der Gründe dafür, wieso der Virus bei seinem Durchmarsch durch die Kontinente eine derartige Dynamik an den Tag legte. Blickt man jedoch zurück auf die Plagen der Vergangenheit, dann stellt man fest, dass auch diese schwere Verläufe hatten. Noch lange vor der rasanten Globalisierung des 20. Jahrhunderts haben Pandemien auf der ganzen Welt gewütet. Sowohl die Pest und Pocken im Mittelalter als auch die Spanische Grippe nach dem 1. Weltkrieg gingen über die Landesgrenzen hinaus und haben Millionen Todesopfer gefordert.
Heute ist der Grad der weltweiten Verflechtungen in Wirtschaft, Politik und Kultur um ein Vielfaches höher, und doch kommt es nicht zwingend auf den Umfang der internationalen Beziehungen an, um eine dramatische Kettenreaktion bei der Ausbreitung einer Krankheit auszulösen. Schon die obligatorische Jahresversammlung eines großen Konzerns könnte locker reichen, um innerhalb kürzester Zeit einen Virus per Flugzeug in die große weite Welt zu schicken, noch lange bevor die ersten Symptome beim sogenannten „Patient Null“ als Gefahr erkannt werden. Nichtsdestotrotz werden die Stimmen laut, die eine Deglobalisierung als politischen Kurs fordern, um so die freie Wirtschaft künstlich in die Schranken zu weisen. Ein richtiger Weg?
Führt man sich die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte vor Augen, dann wird deutlich, dass wir selbst im hochentwickelten Deutschland den technischen Fortschritt, zahlreiche Produkt- und Prozessinnovationen und sogar unseren Wohlstand der Globalisierung zu verdanken haben. Ohne Wissenstransfer und internationale Kompetenzaufteilung, wie man sie heute vorfindet, ist die Entwicklung und Herstellung von Waren – vom Muskelshirt bis zum Hightech-Smartphone – im Alleingang kaum zu schaffen. Ohne den liberalen Handel zwischen den Ländern wären wir nicht in der Lage, zum Export-Weltmeister und zur Wirtschaftsmacht aufzusteigen. Wer denkt, dass wir, zum „Selbstversorger“ avanciert, all das auch ganz alleine hinbekommen, schaut zu viel Unterschichtenfernsehen.
Die Globalisierung aufgeben? Dann würde die Menschheit in ihrer Entwicklung kehrtmachen und damit etwas tun, was in ihrer ganzen Geschichte noch nicht vorkam. Pferdekutsche statt Limousine, Parfüm und Puder statt Wellnessdusche, Abakus statt Personalcomputer. Vielmehr müssen die globalen Ströme unter Kontrolle gebracht werden, was eine enge Zusammenarbeit zwischen den Staaten und zusätzliche bilaterale Abkommen erforderlich macht. Ähnlich wie beim geänderten Umgang mit Atomkraft und Umweltthemen wäre die „Zähmung“ der globalisierten Wirtschaft kein Rückschritt, sondern eine evolutionäre Anpassung an die neue Wirklichkeit. Für politische Entscheider geht es um Augenmaß: vielleicht ist es doch zu blauäugig und damit schnellstens zu korrigieren, dass das Gros der Wirkstoffe für Antibiotika ausschließlich in China hergestellt wird. Und auch Unternehmer könnten sich bei der Betrachtung ihrer Lieferketten über Sicherheitspuffer, mehr Lagerhaltung oder höhere Wertschöpfung im eigenen Haus Gedanken machen. Dass aufkommender Nationalismus und rückwärtsgewandte Strategien unseren Planeten sicherer machen, darf hingegen bezweifelt werden.
Autor: Paul Deder