In § 3 Abs. 1 der Straßenverkehrsordnung ist das sogenannte Sichtfahrgebot niedergelegt. Danach hat der Fahrzeugführer seine Geschwindigkeit u. a. den Sichtverhältnissen anzupassen. Fahren auf Sicht ist auch die Corona-Strategie der Stunde, auf die die Politik seit dem Beginn der Pandemie setzt. Während die Durchhalteparolen die politischen Anheizer genauso penetrant klingen wie zu Beginn der Krise, macht sich bei den Bürgern des Landes eine gewisse Regel-Müdigkeit breit. Wo man sich auf eine ständige Abfolge von Lockdowns und Lockerungen einstellen muss, trifft Entschlossenheitsrethorik nach 14 Monaten Pandemie-Achterbahn auf taube Ohren.
Was recht planlos wirkt, ist das natürliche Ergebnis eines Zustands der latenten Ungewissheit. Niemand – weder die Virologen noch die „Experten“ der Querdenker-Mobs – ist heute in der Lage, die Gefahren von COVID-19 in ein kalkulierbares Risiko zu überführen.Weil kein narrensicheres Konzept vorliegt und es ihn wahrscheinlich auch angesichts fehlender Pandemie-Blaupausen nicht geben kann, wirkt das Handeln der Politik eher reaktiv – nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche. Lichtblicke der Normalität wechseln sich bei steigendem Inzidenzwert mit der Tristesse des Corona-Alltags ab – bis zum Dauer-Brechreiz. Daher können politische Führer im Moment eigentlich nur verlieren.
Aufgrund der nebulöser Lage sind aber auch Teile der Wirtschaft gezwungen, kurzsichtig zu handeln, obwohl nach allen Regeln der Kunst nur eine langfristige Planung als Leitlinie den Unternehmenserfolg sichern kann. Schreibt das Unternehmen krisenbedingt rote Zahlen, dann ist es sogar gängige Praxis der Firmenlenker, Entscheidungen gegen den Trend zu treffen. Statt die Kostenschere anzusetzen, wird an der richtigen Stelle investiert, um mit Schwung aus der Krise zu kommen. Dieses Vorgehen konnte schon im Zuge der letzten Wirtschaftskrise beobachtet werden: Viele Unternehmer handelten trotz dramatischer Umsatzeinbrüche antizyklisch. Sie behielten ihre Mitarbeiter, vermieden Magerkost-Strategien und stellten damit die Weichen dafür, beim Aufschwung die vorderen Startplätze einnehmen zu können. Und sie setzten weiter auf Zukunftsthemen, weil Innovationen ein entscheidendes Rüstzeug für wirtschaftlichen Erfolg in unsicheren Zeiten sind.
Doch all das gilt nur in Zeiten stetig verlaufender Wirtschaftszyklen. Die Corona-Krise kam wie ein unberechenbares Naturereignis – ein Blitz aus heiterem Himmel. Anders als die Finanzkrise 2008 hatte sie keinen ökonomischen Grund. Sie basiert nicht auf Mechanismen der globalen Marktwirtschaft, sondern ist ein künstlich herbeigeführtes Produkt medizinischer Krisenlage. Das zwingt die betroffenen Unternehmen zum Handeln – unter fundamentaler Unsicherheit. Auf die bewährten Maßstäbe der Vergangenheit konnte man sich plötzlich nicht mehr verlassen, fahren auf Sicht ist für viele Firmen ohne dicke Kapitaldecke heute die einzige Möglichkeit. So produziert die Industrie nicht mehr auf Grundlage von Zukunftsprognosen sondern mehr oder weniger nach Kundenauftrag, während die Investitionen zurückgefahren werden, um die Liquidität zu sichern. Laut einer Umfrage der Europäische Investitionsbank (EIB) gaben 45 % der Unternehmen an, aufgrund von COVID-19 weniger investieren zu haben als geplant. Auch wenn die Absicherung der finanziellen Widerstandsfähigkeit aufgrund der Unberechenbarkeit dieser Krise und drohender Pleitewelle wichtiger denn je ist, könnte sich diese Zurückhaltung negativ auf die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auswirken. Und ob es einen raschen Nachholeffekt geben wird, steht in den Sternen. Die Wirtschaftspolitik ist daher gefragt, Anreize und Rahmenbedingungen für Investitionen zu schaffen, damit Deutschland insgesamt gestärkt und nachhaltig aus der Krise kommen kann.
(Autor: Paul Deder)