Über Geschmack lässt sich bekannterweise streiten. Und auch die Kunst liegt im Auge des Betrachters. Das, was sich seit Kurzem in der digitalen Kunstszene entwickelt, übersteigt jedoch jegliche Vorstellungskraft. So hat Twitter-Chef Jack Dorsey im März 2021 eine via Blockchain zertifizierte Kopie seines ersten Tweets verkauft. Die wenig spektakuläre Nachricht „Just setting up my twttr“, die er am 21. März 2006 verfasst hat, war dem Käufer fast 3 Mio. US-Dollar wert. Ein digitales Stück Zeitgeschichte, das skurrilerweise auch nach der Auktion für die Öffentlichkeit sichtbar bleibt.
Für ein Kind der 80er, das eine beträchtliche Zeit damit verbracht hat, Musikkassetten per Bleistift zurückzuspulen, um rare Batterieressourcen im Walkman zu schonen, sorgt der digitale Exzess für Kopfschütteln. Die Versteigerung der aus 5.000 Bildern bestehenden digitalen Collage des US-Künstlers Beeple grenzt dagegen an Wahnsinn, denn sie brachte schlappe 69,3 Mio. US-Dollar ein. Dabei ist der Preis nicht einmal das frappierende daran: Die Bilder der Collage können auch heute noch auf Tumblr kostenlos angesehen werden und das „Werk“ von jedermann ohne Weiteres nachgebaut werden. Ist das Kunst oder kann das weg?
Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie stark unsere Welt vom Geist der Digitalisierung durchtränkt ist. Offline ist heute keine Alternative mehr, sondern purer Luxus. Hat man einmal die Büchse der Pandora geöffnet und sich digital – privat wie beruflich – aufgerüstet, dann gibt es kein Zurück mehr. Immer mehr „gesichtslose“ Freunde, die man in den sozialen Medien als eine Art Trophäen einsammelt. Immer weniger Abstecher in die Stadt, weil die Einkäufe per Knopfdruck auch bequem vom Sofa aus erledigt werden können. Mit Emojis vollgepackte Kurznachrichten ersetzen lange Telefonate mit Menschen, die einem nahe stehen. Und in den Betrieben übernimmt die gewerkschaftslose und genügsame Robotertechnik das, woran keiner mehr Hand anlegen kann oder will. Das „wahre Bare“ steht gefühlt vor dem Aus, weil man heute für das Bezahlen an der Kasse nicht einmal das Portemonnaie zücken muss. Eine App macht‘s auch – ein Muss für die Generation Smombie.
Trotz der Verrohung der Sitten und dem Verlust an Menschlichkeit, die der technische Fortschritt mit sich bringt, ist der Mehrwert der neuen Technologien nicht von der Hand zu weisen. Zweifelsohne setzte die zunehmende Digitalisierung neue Potenziale frei und brachte Erleichterungen im Alltag mit sich, von der nicht nur die Digital Natives profitieren. Auch für die Analogen unter uns macht es wenig Sinn, die neue Realität zu ignorieren, nur um vermeintliche Traditionen schützen oder Werte bewahren zu wollen. Dem technischen Wandel kann man sich auf Dauer nicht entziehen, besonders wenn man noch mit beiden Beinen fest im Leben steht. Nicht die Ablehnung von Veränderungen hat uns Menschen stark gemacht, sondern unsere Fähigkeit, uns an die neuen Lebensumstände anzupassen. Aus diesem Grund bietet die Digitalisierung für die Baubetriebe mehr Chancen als Risiken. Die neuen Technologien helfen Unternehmern, Aufträge an Land zu ziehen und die Wirtschaftlichkeit der Betriebe zu verbessern. Mobiles Arbeiten, digitale Workflows, die Planung und Realisierung mit BIM, der Einsatz von Telematik oder die Automatisierung auf der Baustelle erleichtern die Arbeitsabläufe, ermöglichen eine echte Mensch-Maschine-Vernetzung und verschlanken die Prozesse. Die Qualität der Ausführung steigt genauso wie die Effizienz. Auch wenn viele Bauunternehmen in Deutschland über volle Auftragsbücher verfügen – der Bau steht vor einem Umbruch. In einer Branche, in der ein durchschnittlicher Bauarbeiter einen großen Teil seiner Arbeitszeit mit Vorbereitung, An- und Rückfahrt, Material- und Gerätesuche und Auf- und Abräumtätigkeiten verbringt, ist der Handlungsdruck in Reichweite. Wer zögert und in alten Mustern verharrt, wird von der Dynamik der digitalen Welt überrollt.
(Autor: Paul Deder)